Im Folgenden stelle ich einige frühkindliche Reflexe vor, die bei meinen Untersuchungen besonders häufig als aktiv verbleibende Restreaktionen auftreten und sich oft komplex auf das Leben der Betroffenen auswirken.



Der Moro-Reflex – warum er so entscheidend ist

Viele Eltern ahnen nicht, wie stark ein einziger frühkindlicher Reflex das gesamte Entwicklungssystem eines Kindes beeinflussen kann. Einer der bedeutendsten unter ihnen ist der Moro-Reflex – ein Reflex, der sich bereits sehr früh im Mutterleib entwickelt und auf nahezu alle Sinneskanäle wirkt. Wenn seine Ausreifung oder Hemmung gestört ist, kann sich das in komplexen Mustern zeigen: Verhalten, Motorik, Lernen, Emotionen, Wahrnehmung – kaum ein Bereich bleibt unbeeinflusst.


Was ist der Moro-Reflex?

Der Moro-Reflex wurde nach dem Kinderarzt Dr. Ernst Moro benannt und zählt zu den frühesten und wichtigsten primitiven Reflexen. Er entsteht bereits um die 9. Schwangerschaftswoche und sollte zwischen dem 2. und 4. Lebensmonat von reiferen Reaktionen abgelöst werden.

Er ist eine automatische, vom Hirnstamm gesteuerte Alarmreaktion auf plötzliche Reize:

  • eine schnelle Kopfbewegung
  • ein abruptes Geräusch
  • ein unerwarteter Lichtblitz
  • ein ungewohnter Geruch
  • eine überraschende Berührung

Der Säugling reagiert darauf mit einer klar erkennbaren Bewegungsabfolge: Arme und Beine schnellen in einer symmetrischen Abspreizbewegung vom Körper weg, begleitet von einem tiefen Einatmen. Anschließend ziehen sich Arme und Beine schützend wieder zum Körper zurück, häufig mit einem Schrei.

Dieser Reflex ist ein lebenswichtiger Bestandteil des Überlebenssystems eines Neugeborenen.


Die tieferen Prozesse dahinter – Stresssystem, Hormone und Alarmbereitschaft

Mit der motorischen Reaktion gehen hochkomplexe innere Prozesse einher:
Der Körper setzt Stresshormone wie
Adrenalin und Cortisol frei. Das sympathische Nervensystem wird aktiviert – das System, das uns auf Kampf oder Flucht vorbereitet.

Diese Aktivierung führt zu:

  • erhöhter Atemfrequenz
  • schnellerem Herzschlag
  • erhöhtem Blutdruck
  • verstärkter Durchblutung der Haut
  • maximaler Aufmerksamkeit in alle Richtungen

Der Moro-Reflex ist damit der früheste Ausdruck von Angst, aber auch eine lebensrettende Schutzreaktion. Wird er jedoch nicht zeitgerecht gehemmt, prägt er die emotionale Grundspannung eines Menschen häufig das gesamte Leben über.


Wenn der Moro-Reflex bestehen bleibt

Ein nicht vollständig integrierter Moro-Reflex kann dazu führen, dass Kinder – und später auch Erwachsene – dauerhaft an der Grenze zu Kampf- oder Fluchtreaktionen leben. Selbst harmlose Situationen können dann als potenzielle Gefahr wahrgenommen werden.

Betroffene wirken oft:

  • schreckhaft
  • überempfindlich
  • schnell überfordert
  • innerlich angespannt
  • emotional labil
  • impulsiv oder ängstlich
  • kontrollierend oder vermeidend

Interessanterweise sind viele dieser Menschen gleichzeitig auffallend einfühlsam und fantasievoll – eine Folge ihrer stark ausgeprägten Sinneswahrnehmung. Doch das macht den Alltag nicht leichter: Unbekannte Reize oder schnelle Veränderungen lösen oft unverhältnismäßig starke Reaktionen aus.

Viele Symptome erinnern an ADHS oder ADS, ohne dass die Ursache tatsächlich dort liegt. Häufig wird dies übersehen – und nicht selten werden Therapien oder Medikamente eingesetzt, die zwar Symptome dämpfen, aber nicht die neurophysiologische Grundlage beachten.


Mögliche Auslöser für eine verzögerte Hemmung

Es gibt zahlreiche Faktoren, die dazu beitragen können, dass der Moro-Reflex länger aktiv bleibt als vorgesehen. Dazu zählen unter anderem:

Während der Schwangerschaft

  • hoher Stress der Mutter
  • Erkrankungen oder Unfälle
  • Nährstoffmangel
  • Alkohol, Nikotin, Medikamente
  • emotionale Belastungen

Unter der Geburt

  • sehr schnelle oder sehr lange Geburten
  • Kaiserschnitt oder Saugglocke
  • starke äußere Druckeinwirkung
  • Sauerstoffmangel / Nabelschnurkomplikationen
  • sehr niedriges oder sehr hohes Geburtsgewicht
  • verzögerter Hautkontakt direkt nach der Geburt

Im ersten Lebensjahr

  • Saugprobleme
  • exzessives Schreien oder ungewöhnliche Ruhe
  • früh oder spät auftretende motorische Meilensteine
  • spätes Sprechen
  • Erkrankungen oder Stürze

Diese Faktoren müssen nicht gleichzeitig auftreten – schon einzelne Ereignisse können die Integration des Reflexes beeinflussen.


Bedeutung für die neurophysiologische Entwicklungsförderung

Da der Moro-Reflex mit allen Sinnessystemen verknüpft ist, wirken sich verbleibende Restreaktionen besonders weitreichend aus. Er beeinflusst emotionale Stabilität, Stressregulation, Wahrnehmung, motorische Entwicklung und damit letztlich Verhalten und Lernfähigkeit.

Darum spielt er im F&W-Ansatz eine zentrale Rolle:
Die gezielte Integration des Moro-Reflexes ist häufig ein wesentlicher Schritt, um das
gesamte neurophysiologische System zu stabilisieren – und damit den Weg für nachhaltige Entwicklung zu öffnen.

Der Asymmetrisch-Tonische Nackenreflex (ATNR)

Ein Reflex, der mehr beeinflusst, als viele vermuten

Der ATNR gehört zu den Reflexen, die sich stark an der Kopfbewegung orientieren. Dreht ein Baby den Kopf zur Seite, strecken sich Arm und Bein auf dieser Seite – eine typische Haltung, die man auch als „Fechterstellung“ bezeichnet.

Wenn dieser Reflex sich nicht vollständig zurückbildet, kann das weitreichende Folgen haben:
Bewegungen über die Körpermittellinie, die Hand-Auge-Koordination, das Lesen und Schreiben, die Stift- und Sitzhaltung, Ballspiele oder auch die Entwicklung einer stabilen Seitigkeit (Händigkeit, Augen- oder Ohrdominanz) können deutlich beeinträchtigt sein.

Viele dieser Kinder wirken unkonzentriert – obwohl sie es eigentlich nicht sind.



Was genau ist der ATNR?

Der ATNR entwickelt sich etwa ab der 18. Schwangerschaftswoche – zu einem Zeitpunkt, an dem viele Schwangere die ersten kräftigen Bewegungen ihres Kindes wahrnehmen.

Dreht das Baby seinen Kopf, streckt sich die Körperseite, in deren Richtung der Kopf zeigt, während die gegenüberliegende Seite sich beugt. Diese Reaktion unterstützt wichtige vorgeburtliche Bewegungsmuster und hilft dabei, Muskelspannung aufzubauen und Rotationsbewegungen im engen Raum der Gebärmutter zu ermöglichen.



Eine Schlüsselrolle bei der Geburt

Während der Geburt übernimmt der ATNR – gemeinsam mit anderen Reflexen – eine entscheidende Aufgabe:
Das Baby muss sich spiralförmig durch das Becken drehen, um seinen Weg durch den Geburtskanal zu finden. Durch die Aktivierung des ATNR werden Schultern und Hüften beweglicher und passen sich besser dem Geburtsweg an.

Bei einer normalen vaginalen Geburt wird der Reflex intensiv genutzt und erreicht dadurch eine Art „Höhepunkt“, von dem aus er sich nach der Geburt gut zurückbilden kann.

Kommt es jedoch zu Abweichungen vom natürlichen Geburtsverlauf, z. B.:

  • Kaiserschnitt
  • Saugglocke oder Zange
  • sehr schnelle Geburt („Sturzgeburt“)
  • Frühgeburt

… kann der ATNR nicht ausreichend aktiviert werden. Er schwächt sich später zwar ab, wird aber selten vollständig gehemmt.



Warum eine vollständige Hemmung so wichtig ist

Erst wenn der ATNR zurückgebildet ist, kann ein Baby:

  • seine Hände problemlos in die Körpermitte führen
  • Gegenstände sicher zum Mund bringen
  • seine Augen unabhängig von der Kopfbewegung steuern

Diese „Entkoppelung“ von Kopf und Augen ist Voraussetzung dafür, später visuell fixieren zu können – also trotz Bewegung in der Lage zu sein, ein Objekt klar wahrzunehmen.

Bleibt der ATNR über den 4.–6. Lebensmonat hinaus aktiv, wirkt er wie ein unsichtbarer Bremsklotz in der motorischen und später auch schulischen Entwicklung. Jede Kopfdrehung löst eine automatische Streckbewegung auf der Gesichtsseite aus – etwas, das weder Kind noch Erwachsener bewusst kontrollieren kann.



Anzeichen für einen nicht vollständig gehemmt ATNR

Schon frühe Entwicklungsphasen können Hinweise bieten:

  • Kinder drehen sich später oder untypisch vom Rücken auf den Bauch
  • das Kriechen wirkt „seltsam“ oder wird komplett übersprungen
  • Überkreuzbewegungen (rechts nach links, links nach rechts) fallen schwer

Besonders auffällig wird der Rest-ATNR jedoch mit dem Schulbeginn:

Beim Schreiben:

  • Linien werden nicht eingehalten
  • der Seitenrand „wandert“
  • der Stift wird verkrampft oder ungewöhnlich gehalten
  • das Kind drückt übermäßig stark auf
  • Abschreibfehler treten häufig auf
  • Schreiben wird schnell zur Qual und wird so weit wie möglich vermieden

Viele Eltern erkennen ihr Kind sofort wieder, wenn sie solche Situationen lesen – oft verbunden mit Streit bei den Hausaufgaben und der frustrierenden Frage:
„Warum klappt es einfach nicht, obwohl mein Kind doch intelligent ist?“

Beim Lesen:

  • das Auge kann den Zeilenverlauf nicht mühelos verfolgen
  • Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen werden ausgelassen
  • das Kind „springt“ in den Zeilen

Solche Symptome sind nicht Ausdruck mangelnder Fähigkeit, sondern ein Zeichen dafür, dass die neurophysiologische Basis noch nicht stabil ist.



Warum der ATNR so wichtig für die weitere Entwicklung ist

Der ATNR beeinflusst zentrale Grundlagen der körperlichen und schulischen Entwicklung.
Bleibt er aktiv, erschwert er alltägliche Bewegungsmuster, Handlungsplanung, Schreibmotorik und das visuelle Erfassen von Texten.

Deshalb spielt seine Integration in der neurophysiologischen Entwicklungsförderung bei F&W eine zentrale Rolle.
Mit gezielten Bewegungsprogrammen kann der Körper nachreifen – Schritt für Schritt, in einem klar strukturierten Prozess, der vielen Kindern enorm hilft, ihre Fähigkeiten freier und müheloser zu entfalten.

 

Der Tonische Labyrinthreflex (TLR)

vorwärts & rückwärts


Ein Reflex, der frühe Raumwahrnehmung, Haltung und Gleichgewicht prägt

Der Tonische Labyrinthreflex (TLR) gehört zu den frühesten Steuerungsmechanismen des kindlichen Nervensystems. Er reagiert sensibel auf die Kopfhaltung – nach vorne und nach hinten – und beeinflusst dadurch den gesamten Körpertonus, die Raumlagewahrnehmung, die Gleichgewichtsentwicklung sowie die Fähigkeit, sich später gegen die Schwerkraft aufzurichten.

Wenn dieser Reflex nicht vollständig ausreift oder zu spät gehemmt wird, kann er langfristig eine Vielzahl körperlicher und sensorischer Schwierigkeiten auslösen – von Haltungsschwächen über Gleichgewichtsprobleme bis hin zu Beeinträchtigungen beim Lesen, in der Augensteuerung oder im auditiven Verarbeiten.


Was macht der TLR vorwärts?

Beugt ein Fötus oder Baby den Kopf nach vorn, zieht sich der Körper automatisch in eine fötale Beugehaltung zusammen.


Diese Haltung:

  • reduziert den Muskeltonus
  • ermöglicht Anpassung an den engen Raum der Gebärmutter
  • intensiviert den Berührungskontakt zur Uteruswand
  • vermittelt Sicherheit und Orientierung


Ist der TLR vorwärts bereits in dieser frühen Phase nicht stabil, kann es sein, dass das Ungeborene nicht optimal in die Geburtsposition findet.


Wenn der TLR vorwärts nicht richtig gehemmt wird …

Bleibt der Reflex über den 4.–5. Lebensmonat hinaus bestehen, sieht man häufig:

  • Rundrücken
  • Hochgezogene Schultern
  • gebeugte Beine
  • reduzierte Körperspannung („Affengang“)
  • unkontrollierte Ausgleichsbewegungen
  • Greifen mit den Zehen
  • Schwindel oder Unsicherheitsgefühle


Kinder mit einem aktiven TLR vorwärts haben oft große Schwierigkeiten beim Krabbeln. Dadurch kann wiederum die Hemmung anderer Reflexe verzögert werden, z. B. des STNR (Symmetrisch Tonischer Nackenreflex).


Was macht der TLR rückwärts?

Der rückwärts gerichtete TLR spielt in der späten Schwangerschaft und bei der Geburt eine entscheidende Rolle. Er ermöglicht dem Baby, sich mit dem Kopf Richtung Geburtskanal zu strecken und sich spiralförmig hinein zu drehen – ein zentraler Mechanismus des natürlichen Geburtsablaufs.


Kommt es zu Störungen im Geburtsprozess, z. B.:

  • Kaiserschnitt
  • Saugglocke oder Zangengeburt
  • sehr schnelle oder sehr lange Geburten
  • Frühgeburt

… wird der TLR rückwärts häufig nicht ausreichend aktiviert. Eine vollständige Hemmung gelingt dann seltener.


Anzeichen eines nicht gehemmt TLR rückwärts

Bei einer nach hinten geneigten Kopfhaltung zeigen sich typischerweise:

  • Überstreckung / Hohlkreuz
  • gestreckte Beine, erhöhter Muskeltonus
  • Gehen auf Zehenspitzen oder Ballen
  • ruckartige, wenig fließende Bewegungen
  • Schwindelgefühle
  • Desorientierung


Diese Kinder wirken oft angespannt, überstreckt oder „zu straff“ im gesamten Körper.



Typische Symptome, wenn der TLR bestehen bleibt

Die Auswirkungen von TLR vorwärts und rückwärts ähneln sich im Alltag häufig, unterscheiden sich aber in der Körpertonuslage:

  • TLR vorwärts: eher schlaff (hypoton), zusammengesackt
  • TLR rückwärts: eher steif (hyperton), überstreckt, impulsiver in den Bewegungen


Weitere mögliche Folgen:


Gleichgewicht & Raumwahrnehmung

  • mangelnde Kopfkontrolle
  • Probleme mit der Raum-Lage-Orientierung
  • unsicheres Gleichgewicht
  • schnelle Ermüdung bei Bewegung
  • Höhenangst


Da der TLR eng mit dem vestibulo-okularen Reflexbogen (Zusammenspiel von Gleichgewicht, Augen und auditiver Orientierung) verknüpft ist, kommt es oft zu:


Visuellen Auffälligkeiten

  • Zeilen verlieren beim Lesen
  • unpräzise Augenfolgebewegungen
  • Schwierigkeiten, visuell Informationen zu sortieren


Auditiven Problemen

  • Verzerrte oder verspätete Wahrnehmung von Geräuschen
  • Probleme, Klangquellen schnell zu lokalisieren
  • eingeschränktes Hörverstehen in lauter Umgebung


Schulische Auswirkungen

Kinder mit Gleichgewichts- und Raumwahrnehmungsproblemen haben oft mehr Mühe in Bereichen wie:

  • Lesen
  • Schreiben
  • Mathematik (Reihenfolgen, Raumorientierung)
  • Einhalten von Abläufen
  • Zeitgefühl


Weitere Hinweise

  • Abneigung gegen Sport oder neue Bewegungen
  • Unsicherheit auf Spielgeräten
  • erhöhtes Risiko für Reiseübelkeit
  • Probleme beim Erkennen oder Einhalten von Reihenfolgen


Warum der TLR für die Entwicklungsförderung so zentral ist

Der Tonische Labyrinthreflex beeinflusst wesentliche Grundlagen: Kopfkontrolle, Gleichgewicht, Koordination, Raumwahrnehmung und das Zusammenspiel von Sinnesverarbeitung und Bewegung.

Bleibt er aktiv, wirkt das wie eine permanente Störung im „Grundprogramm“ der Bewegungs- und Wahrnehmungsorganisation. Deshalb spielt seine Integration in der neurophysiologischen Entwicklungsförderung eine wesentliche Rolle – oft ist er einer der Schlüsselreflexe, der zuerst stabilisiert werden müssen, um alle weiteren Entwicklungsschritte zu erleichtern.

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